Ausreichendes Angebot ist ein wesentlicher Bestandteil der globalen Ernährungssicherheit. Die Überbetonung der Verfügbarkeit überlagert jedoch weitaus dringlichere Probleme wie Klimawandel, Verlust an biologischer Vielfalt und Bodendegradation.
Um die wachsende Weltbevölkerung in einem sich ändernden Klima zu ernähren, müssen wir mehr Nahrungsmittel bei gleichzeitiger Nutzung von weniger Ressourcen produzieren.
Eine wachsende Weltbevölkerung auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen und zunehmend unberechenbaren Klimabedingungen entwickelt sich tatsächlich zum Problem für Ernährungssysteme. Es ist daher absolut sinnvoll, sie effizienter zu gestalten. Viele Vorschläge beinhalten jedoch Lösungen wie Flächenumwandlung oder Düngemittel- und Pestizideinsatz, die Umweltprobleme noch verstärken. Selbst Technologie und Innovationen im Agrarsektor können die Zunahme der Umweltauswirkungen nur verlangsamen, ohne sie insgesamt zu reduzieren. Wir müssen uns letztlich die Frage stellen, ob wir wirklich mehr Nahrung produzieren müssen, um weltweite Ernährungssicherheit zu gewährleisten.
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Irrtümer ausräumen
Die offizielle Definition der Ernährungssicherheit umfasst vier Dimensionen. Das Konzept wird jedoch weitgehend als Notwendigkeit verstanden, mehr Nahrungsmittel für eine wachsende Bevölkerung zu erzeugen. Dabei liegt der Schwerpunkt oftmals auf ertragreichen, ressourcenintensiven Sorten. Dies steht im klaren Widerspruch zu den Klimaschutzmaßnahmen im Agrarsektor, die danach streben, etwa den Einsatz von Wasser, Düngemitteln und Pestiziden sowie die Ausdehnung der landwirtschaftlichen Nutzfläche zu beschränken. Als Antwort auf das Dilemma „Ernährungssicherheit vs. Klimaschutz“ müssen wir die Annahmen hinter dem Narrativ der Ernährungssicherheit kritisch hinterfragen.
1. Eine wachsende Bevölkerung macht nicht automatisch eine erhöhte Nahrungsmittelproduktion erforderlich
Die Annahme, dass die Nahrungsmittelproduktion mit wachsender Bevölkerung zunehmen muss, mag auf den ersten Blick plausibel klingen. Es handelt sich hierbei jedoch um einen Fehlschluss. Trotz der immer häufiger werdenden und heftiger ausfallenden Klimakatastrophen in den Anbauregionen der Erde, wie unregelmäßige Niederschläge, Überschwemmungen und anhaltende Dürre, sind die landwirtschaftlichen Erträge über die letzten Jahrzehnte stetig gestiegen. Außerdem geht die Rechnung nicht ganz auf. Im Jahr 2012 lag die Weltbevölkerung bei knapp über sieben Milliarden Menschen. Dabei wurden weltweit Nahrungsmittel für zehn Milliarden Menschen erzeugt. Die Nahrungsmittelversorgung ist in den folgenden Jahren immer weiter gestiegen, während die Weltbevölkerung noch immer unter acht Milliarden liegt.
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Schätzungen zufolge könnte die Weltbevölkerung um das Jahr 2100 mit 9,4 bis 12,7 Milliarden Menschen ihren Höhepunkt erreichen und anschließend zurückgehen. Das heißt, es ist sehr wahrscheinlich, dass wir heute bereits ausreichend Nahrung produzieren, um das prognostizierte Bevölkerungsmaximum zu ernähren. Tatsächlich geht etwa ein Drittel der heute produzierten Nahrungsmittel (oder ca. 1 Billion US-Dollar im Jahr) aufgrund fehlender Verarbeitungs- und Lagerkapazitäten nach der Ernte verloren oder wird am Ende der Lieferkette (Handel und Haushalte) verschwendet. Wir können die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln verbessern, ohne die Produktion zu steigern, indem wir Verlust und Verschwendung angehen.
Die Verknüpfung von Nahrungsmittelkonsum und Bevölkerungszahl kann die Schuldzuweisungen auf die ärmsten und am schnellsten wachsenden Länder der Welt richten, die am wenigsten für den Klimawandel verantwortlich, aber am meisten davon betroffen sind. In der Tat zeigen Studien, dass Verbrauchsmuster bei Nahrungsmitteln nicht mit Bevölkerungsgröße, sondern mit Wohlstand zusammenhängen: Reichere Bevölkerungsgruppen konsumieren mehr Nahrung und weisen ein ressourcenintensiveres Ernährungsverhalten auf. Viele Argumente für die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion gehen von einer steigenden Nachfrage nach ressourcenintensiven Nahrungsmitteln wie Fleisch und Milcherzeugnisse in der entwickelten Welt aus. Dies ist etwas, das wir nicht fördern sollten, geschweige denn in unsere Berechnungen der Ressourcen einbeziehen sollten, die wir benötigen, um die Welt zu ernähren.
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2. Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ist nicht gleichzusetzen mit Ernährungssicherheit
Eine weitere irrtümliche Annahme ist, dass die reine Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln Ernährungssicherheit gewährleistet. Die vier Dimensionen der Ernährungssicherheit umfassen Verfügbarkeit, Zugang, Verwendung und Stabilität. Eine Einzelperson, Gemeinschaft oder Region gilt erst als ernährungsgesichert, wenn alle vier Kriterien erfüllt sind. Ein ausreichendes Nahrungsmittelangebot in einer Region schafft nicht zwangsläufig Ernährungssicherheit. Ernährungsunsicherheit entsteht hauptsächlich aus den anderen drei Dimensionen. Die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ist für Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen wenig hilfreich, wenn sie nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um sie zu kaufen (Zugang), über die Ressourcen, um sie zuzubereiten (Verwendung), oder wenn sie sich ständig von wirtschaftlichen, politischen und Umweltkrisen bedroht sehen (Stabilität).
3. Können wir mehr Nahrungsmittel mit weniger Ressourcen herstellen?
Nachhaltige Intensivlandwirtschaft ist in den letzten Jahren in den Fokus gerückt, denn hierbei wird bei geringerem Ressourcenverbrauch die gleiche Menge an Nahrungsmitteln produziert. Diese Form der Landwirtschaft hätte weniger Hektar abgeholzte und übernutzte Flächen zur Folge, aber ist auch kein Allheilmittel: Unsere Ressourcen sind beschränkt, wie im berühmten Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972 beschrieben wird. Insbesondere mit Blick auf Lebensmittelverluste und -verschwendung kann viel getan werden, um die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ohne erhöhten Verbrauch der Ressourcen zu steigern.
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Ernährungssicherheit und Klimaschutz schließen sich nicht aus
Viele glauben, dass wir vor einem Dilemma stehen: Sollen wir den Klimawandel bekämpfen und die Umwelt schützen oder Ernährungssicherheit durch eine stetig steigende Nahrungsmittelproduktion gewährleisten? Der Nahrungsmittelversorgung wurde wiederholt Vorrang vor Klima- und Umweltbelangen eingeräumt. Je eher wir verstehen, dass es kein globales Ernährungsproblem gibt, desto früher können wir Hindernisse auf dem Weg zu einem wirksamen Klima- und Umweltschutz beseitigen.
Bedeutet dies, dass politische Entscheidungstragende die Versorgung bei der Verbesserung der Ernährungssicherheit außer Acht lassen können? Auf keinen Fall. Lokale Nahrungsmittelknappheit ist ein sehr reales Problem. Insbesondere bei fortschreitendem Klimawandel kann es in bestimmten Ländern und Regionen zu abnehmenden Erträgen beziehungsweise regelmäßigen Schocks bei der Nahrungsmittelversorgung kommen, oder durch Konflikte, Gewalt oder Naturkatastrophen vertriebene Bevölkerungsgruppen sind auf Nahrungsmittelsoforthilfe für ihre Ernährung angewiesen. In diesen konkreten Situationen ist die Nahrungsmittelproduktion von großer Bedeutung für die nationale Ernährungssicherheit, denn regelmäßige Lebensmitteleinfuhren wären ein logistischer Alptraum (von der Klimabilanz ganz zu schweigen).
Angesichts dringlicher Umwelt- und Klimaziele ist die verallgemeinerte Aussage, dass die Nahrungsmittelerzeugung weltweit gesteigert werden muss, dennoch unzutreffend und kontraproduktiv. Langfristig ist eine stabile globale Lebensmittelversorgung eine Frage der Widerstandsfähigkeit. Die Lösung besteht nicht darin, die Nahrungsmittelproduktion unter veränderten klimatischen Bedingungen anzukurbeln, sondern darin, die Hauptursachen des Klimawandels anzugehen.
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Dafür müssen wir Landwirten ein Sicherheitsnetz bieten, während wir die Notwendigkeit einer gesteigerten Nahrungsmittelproduktion überdenken. Der Agrarsektor ist ein wichtiges Standbein der Volkswirtschaft in vielen Ländern, er macht 27 Prozent der weltweiten Gesamtbeschäftigung und bis zu 59 Prozent in einkommensschwachen Ländern aus. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU plant Direktzahlungen an Landwirte für umweltfreundliche Praktiken, aber solche Maßnahmen müssen mit globalen Klima- und Umweltzielen abgestimmt werden und wir brauchen umsetzbare Lösungen für weniger stabile Volkswirtschaften.
Letztendlich ist für eine stabile und langfristige Ernährungssicherung eine Priorisierung der Bekämpfung des Klimawandels und der Umweltsanierung erforderlich. Um die Endlosschleife global steigender Erträge zu durchbrechen, müssen Vertreter aus den Bereichen Klima und Umweltschutz eine Schlüsselrolle einnehmen – gemeinsam mit allen relevanten Interessengruppen: Landwirten, Gemeinden, Regierungen, Unternehmen und vor allem Verbrauchern.
Dieser Beitrag erschien am 27. September 2021 in CCAFS News.
Raquel Munayer ist Consultant im Programm Climate Diplomacy and Security. Außerdem koordiniert sie die Wissensplattform Climate Diplomacy und den Twitter-Kanal @ClimateDiplo. Sie beschäftigt sich leidenschaftlich mit den Umweltauswirkungen von Ernährungssystemen und der Zukunft der Ernährungssicherheit in einem sich verändernden Klima.
Peter Läderach leitet das Projekt Climate-Smart Technologies and Practices des CGIAR-Forschungsprogramms zu Klimawandel, Landwirtschaft und Ernährungssicherheit (CCAFS). Er verfügt über fast 20 Jahre Forschungserfahrung in Entwicklungsländern in den Bereichen Armutsbekämpfung, Klimaanpassung und -abschwächung, Resilienzaufbau und Umweltschutz.