Rückblick auf 2024: Wie adelphi globale Umweltlösungen voranbringt
News vom 20. Dez. 2024
Meinungsbeitrag von Iven Froese
Wer vom Verlust nichts weiß, hat nichts verloren.
- Publilius Syrus, Maxims (c. 100 BC)
Der Verlust der Biodiversität ist heute ein zentrales Problem: Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht und erfordern umgehende Schutzmaßnahmen. Während die Menschen seit Jahrtausenden Einfluss auf die Umwelt nehmen, hat sich die Geschwindigkeit des Artensterbens in den letzten 200 Jahren infolge der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung dramatisch erhöht.
Um das volle Ausmaß der Zerstörung zu erkennen, ist eine langfristige Perspektive nötig. Einzelpersonen nehmen Veränderungen jedoch nur über relativ kurze Zeiträume wahr. Aufgrund fehlender Informationen oder Erfahrungen historischer Bedingungen akzeptiert jede Generation den Status quo, in dem sie aufgewachsen ist, als Normalzustand.Mit abnehmender Biodiversität verschiebt sich der Referenzpunkt und wird zur neuen Baseline. Der Verlust von Arten oder Orten, die bei unserer Geburt bereits verschwunden waren, lässt sich nur schwer betrauern. Dieser Wandel in der Wahrnehmung wird als Shifting-Baseline-Syndrom (SBS) bezeichnet: Langsame, aber stetige Umweltveränderungen können unbemerkt bleiben. Das SBS schafft eine neue akzeptierte Norm für den Zustand der Natur.
Dieses Phänomen erschwert die Naturschutzbemühungen: Menschen werden zunehmend toleranter, wenn es um Umweltzerstörung geht, und haben einen veränderten Blick darauf, wie eine gesunde Umwelt aussieht. Die Naturschutzbiologen Masashi Soga und Kevin J. Gaston haben einen Kontaktverlust und mangelnde Vertrautheit mit der Natur als Hauptgründe für das SBS identifiziert. Menschen verbringen mehr Zeit mit naturfernen Tätigkeiten oder haben keinen Zugang zur Natur. Darüber hinaus verschwindet Naturkunde aus dem Schulunterricht, insbesondere auf der Nordhalbkugel.
Das SBS lässt sich also auf soziale Praktiken wie Freizeitaktivitäten oder Bildung zurückführen. Im 19. Jahrhundert hat Karl Marx den Begriff Entfremdung geprägt. Nach Marx war die Entfremdung ein Ergebnis der Arbeit unter industrialisierten kapitalistischen Bedingungen. Entfremdung beschreibt die fehlende Kontrolle der Arbeitskräfte über ihre soziale und natürliche Welt – unter anderem sind sie von ihrer menschlichen Natur entfremdet. Dabei ist Arbeit wohl die bedeutendste soziale Praxis im Leben eines Menschen.
Beschleunigen Arbeitsweisen den Trend?
Ich behaupte, dass entfremdete Arbeit und das SBS eng miteinander verknüpft sind. Arbeit im 21. Jahrhundert beschleunigt und verstärkt das SBS in drei Dimensionen. Nur wenn wir diese Dimensionen und ihre Folgen verstehen, können wir das SBS überwinden und den Verlust der Natur aufhalten.
Die erste, strukturelle Dimension der Arbeit, befasst sich mit dem Wie und Was der Tätigkeit. Heute findet Arbeit, ob geistig oder körperlich, insbesondere in der nördlichen und westlichen Hemisphäre, überwiegend am Computer, an hochtechnisierten Maschinen und sterilen Fertigungslinien statt. Arbeitsabläufe sind völlig entkoppelt von biologischen Prozessen und der natürlichen Umwelt. Letztlich bedeutet dies, dass Menschen durch die Ausführung ihrer Arbeit den Kontakt zur Natur verlieren.
Die zweite, räumliche Dimension betrifft, wo wir arbeiten. Aus der ersten Dimension ergibt sich, dass der Großteil der industrialisierten und digitalisierten Arbeit in Büros, Industriegebäuden oder Produktionsanlagen verrichtet wird. Diese Arbeitsstätten befinden sich in Gewerbe-, Stadt- und Industriegebieten mit wenigen Naturräumen. Die zunehmende Urbanisierung sowie das allgemeine globale Bevölkerungswachstum dürften diesen Trend weiter verstärken. Naturnahes Leben und Arbeiten und die Möglichkeit, die Natur regelmäßig zu erleben, werden immer seltener.
Wie stellen wir das Gleichgewicht wieder her?
Die erste, strukturelle Dimension der Arbeit, befasst sich mit dem Wie und Was der Tätigkeit. Heute findet Arbeit, ob geistig oder körperlich, insbesondere in der nördlichen und westlichen Hemisphäre, überwiegend am Computer, an hochtechnisierten Maschinen und sterilen Fertigungslinien statt. Arbeitsabläufe sind völlig entkoppelt von biologischen Prozessen und der natürlichen Umwelt. Letztlich bedeutet dies, dass Menschen durch die Ausführung ihrer Arbeit den Kontakt zur Natur verlieren.
Die dritte, zeitliche Dimension befasst sich damit, wie viel wir arbeiten. Bei einem Vollzeitarbeitsverhältnis arbeiten die Angestellten in der Regel etwa fünf Achtstundentage, gefolgt von einem zweitägigen arbeitsfreien Wochenende. In vielen Branchen werden bezahlte oder unbezahlte Überstunden erwartet und eine 60-Stunden-Woche ist keine Seltenheit. Zudem folgt auf den bezahlten Vollzeitjob oftmals unbezahlte Arbeit in Form von Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen. Das Wochenende ist oft gefüllt mit anderen Aktivitäten wie Familienleben, Besorgungen oder Hobbys. So bleibt wenig Zeit, um die Natur zu erleben, etwas darüber zu lernen und vor allem Veränderungen zu bemerken. Für viele ist das Gleichgewicht zwischen Arbeit, Privatleben und Natur gestört. Wie können wir dieses Gleichgewicht wieder herstellen, um zur Natur zurückzufinden?
Eine Arbeitszeitverkürzung scheint von zentraler Bedeutung zu sein. Die zeitliche Dimension der Arbeit lässt sich am einfachsten ändern und kann die Auswirkungen der strukturellen und räumlichen Dimensionen abmildern. Wir sind in der Tat eine der ersten Generationen, die in der Lage ist, dank Digitalisierung und Automatisierung ihre Arbeitszeit zu verkürzen und trotzdem ihren Lebensstandard beizubehalten. Die Vorteile daraus sollten für mehr Freizeit und Gleichberechtigung genutzt werden.
In Zeiten der Covid-19-Pandemie lässt sich ein starker Trend beobachten: Menschen verbringen vermehrt Zeit in der Natur. Mit verkürzten Arbeitszeiten können wir einen ähnlichen Effekt erwarten. Menschen würden mehr Zeit in ihren Gemeinden und mit Freizeitaktivitäten verbringen. Viele dieser Aktivitäten finden in der Natur statt, wodurch der Kontakt zur und das Wissen um die Natur zunehmen und Menschen im Idealfall dazu inspiriert würden, sie zu schützen.
Letztlich ist der Wunsch nach mehr Zeit nicht neu. In den Worten des US-amerikanischen Dichters Walt Whitman: „Was ist dieses Leben, wenn wir nur an Sorgen kauen und keine Zeit bleibt, um zu stehen und zu schauen.“ Wir müssen den Menschen die Zeit zurückgeben, um die Welt um sich herum zu beobachten, wenn wir sie dazu ermutigen wollen, wieder zur Natur zurückzufinden. Nur dann können wir als Gesellschaft die Verschiebung der Baselines erkennen und schließlich etwas unternehmen, um den Verlust der Natur aufzuhalten. Weniger zu arbeiten bietet einen Ausweg aus dem Hamsterrad und ermöglicht eine Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen Arbeit, Privatleben und Natur im 21. Jahrhundert .
Dieser Beitrag erschien am 23. September 2021 im klimareporter° in einer erweiterten Fassung.
Iven Froese ist Analyst im Bereich Biodiversität und Naturschutz bei adelphi.