Nach Baku - die COP braucht endlich wieder ein Heimspiel
Kommentar von Dennis Tänzler
Insight von Christiane Röttger
Mit dem Europäischen Grünen Deal und der Biodiversitätsstrategie für 2030 hat die EU einen ehrgeizigen Plan vorgelegt, wie die Klimakrise angegangen und unsere biologische Vielfalt und unser Naturerbe bewahrt und wiederhergestellt werden können. Ein solcher Ehrgeiz und eine klare Vision sind entscheidend, und die EU hat einen wichtigen Schritt getan, indem sie sich verstärkt auf eine „grüne Entwicklung“ und die nachhaltige Nutzung natürlichen Ressourcen ausgerichtet hat. Doch gerade für die biologische Vielfalt ist es die praktische Umsetzung vor Ort, in den EU-Mitgliedsstaaten, die letztlich den Unterschied für Natur und Menschen ausmacht.
Genau hier setzt das europäische Netzwerk Natura 2000 an: In den vergangenen 30 Jahren hat es sich zum weltweit größten Netzwerk von Schutzgebieten entwickelt. Es umfasst mehr als 27.000 Gebiete in 27 Mitgliedsstaaten und deckt fast 18 Prozent der Landfläche der EU – eine Fläche so groß wie Deutschland, Frankreich, Polen und Belgien zusammen – und fast 10 Prozent der Meeresfläche ab.
Das Hauptziel des Natura 2000-Netzwerks ist es, Europas wertvollste und bedrohteste Tier- und Pflanzenarten zu schützen und ihre natürlichen Lebensräume zu erhalten und wiederherzustellen. Diese Arten und Lebensräume sind in den beiden zentralen EU-Naturschutzrichtlinien festgelegt: der EU-Vogelschutzrichtlinie und der EU-Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, welche zusammen auch die rechtliche Grundlage für die Einrichtung des Natura-2000-Netzwerks bilden.
Das Natura-2000-Netzwerk hat bedeutende Erfolge erzielt. Gemeinsame Kriterien zur Auswahl und Ausweisung und, bis zu einem gewissen Grad, zur Überwachung von Schutzgebieten über eine so große und vielfältige Fläche wie die der EU ist einzigartig. Das Natura-2000-Netzwerk vermittelt uns nicht nur ein gutes Verständnis über den Zustand der europäischen Natur, sondern auch ein Mittel zur Zusammenarbeit und zum Austausch über Schutzmaßnahmen. Bestimmte Arten und Lebensräume profitieren eindeutig vom Schutz und Management der Lebensräume, auf die sie angewiesen sind. Es ist auch klar, dass es um die biologische Vielfalt innerhalb der EU ohne Natura viel schlechter bestellt wäre.
Allerdings gibt es auch Probleme bei der Umsetzung der Naturschutzrichtlinien. Der EU-Bericht zum Zustand der Natur 2020 zeigt, dass nicht nachhaltige Land- und Forstwirtschaft, Zersiedelung und Umweltverschmutzung dazu führen, dass sich der Zustand vieler Lebensräume weiter verschlechtert. Dies geht mit einem anhaltenden Verlust von Insekten, Vögeln, Säugetieren und Pflanzen einher. Darüber hinaus ist die Europäische Kommission auch heute noch gezwungen, Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedsstaaten einzuleiten. Nicht nur auf Grund von Versäumnissen, die Arten und Lebensräume des Netzwerks zu schützen, sondern auch, weil Mitgliedsstaaten es versäumt haben, Natura-2000-Gebiete überhaupt auszuweisen. Zukünftig ist es von entscheidender Bedeutung, dass politische Vorhaben auf EU-Ebene gut koordiniert werden und sowohl bei der Formulierung als auch bei der Umsetzung gut aufeinander abgestimmt werden. Klar ist, dass Naturschutz nur funktionieren kann, wenn eine Reihe verschiedener Akteure in den Prozess eingebunden werden.
Seit der Einführung des Natura-2000-Netwerkes stellt dies jedoch eine große Herausforderung dar. In der Vergangenheit wurden einzelne Natura-2000-Gebiete mit erheblichem lokalem Widerstand konfrontiert: Betroffene Akteure wurden spät oder gar nicht über die Umsetzung von Maßnahmen konsultiert und zeigten sich über mögliche Einschränkungen ihrer Aktivitäten besorgt. Andererseits ist Natura 2000 der breiten Öffentlichkeit fernab von ausgewiesenen Natura-2000-Gebieten oft unbekannt. Dadurch fehlt es an öffentlichem Verständnis und Unterstützung.
Die 2016 durchgeführte Bewertung der beiden Naturschutzrichtlinien (der sogenannte Fitness-Check) kam zu dem Schluss, dass das Bewusstsein und das Engagement der verschiedenen Akteure der Schlüssel zum Erfolg der Naturschutzrichtlinien sind. adelphi beteiligt sich an verschiedenen Vorhaben, um das Bewusstsein und das Verständnis für Natura 2000 zu erhöhen. Eines davon, der Natura 2000 Award, zielt darauf ab, die Leistungen verschiedenster Interessengruppen beim Schutz von Natura 2000 zu würdigen und durch eine öffentliche Abstimmung die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf das Netzwerk zu lenken. Die bisherigen Preisträger reichen von der Zusammenarbeit mit Landwirten mit Flächen von hohem Naturwert (High Nature Value Farmland) in Rumänien bis hin zu technisch komplexen Maßnahmen zur Meeresrenaturierung in Dänemark.
Auch der Austausch über die aktuellen Herausforderungen und bestehende Handlungsbedarfe zwischen Naturschutzfachleuten aus unterschiedlichen Bereichen und Mitgliedsstaaten ist wichtig, um einen effektiven Schutz von Arten und Lebensräumen zu ermöglichen. adelphi unterstützt diese Bemühungen im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz.
Die Aktualisierung des Europäischen Informationssystem für Biodiversität (BISE) durch die EU bietet ebenfalls die Möglichkeit, die öffentliche Wahrnehmung von Natura 2000 zu verbessern. Um bestehende Wissenslücke zu schließen, hat die Europäische Kommission ein Projekt ins Leben gerufen, das über die Naturschutzbemühungen auf EU-Ebene informiert. In diesem Zusammenhang werden Informations- und Lehrmaterialien für die breite Öffentlichkeit und den Bildungssektor entwickelt. Das Projekt nutzt die Daten, welche die Mitgliedsstaaten im Rahmen ihrer Verpflichtungen unter den Naturschutzrichtlinien einreichen und präsentiert diese auf zugängliche Art und Weise. adelphi ist einer der Projektpartner.
Die Ziele der Biodiversitätsstrategie 2020 haben wir in Europa nicht erreicht. Um diesen Fehler auszugleichen, zeigt die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 ein höheres Ambitionsniveau und verspricht einen ganzheitlicheren Ansatz. Das Natura-2000-Netzwerk ist für das Erreichen vieler Zielsetzungen der Biodiversitätsstrategie 2030 von zentraler Bedeutung (beispielsweise die Ausdehnung des Anteils der Fläche streng geschützter Gebiete auf 10 %) und wird von anderen profitieren (z.B. effektives Management aller Schutzgebiete; Aufbau eines transeuropäischen Naturnetzes). Die weitere Definition und Umsetzung dieser Ziele muss jedoch mit den ursprünglichen Ambitionen Schritt halten und darf diese nicht verwässern, nur um dem Status quo zu entsprechen. Hier ist es wichtig, aus früheren Erfahrungen zu lernen und sicherzustellen, dass alle wichtigen Akteure schnell und sinnvoll einbezogen werden- insbesondere EU-Institutionen, einzelne Mitgliedsstaaten, Sektoren, welche die biologische Vielfalt beeinflussen, und die Öffentlichkeit.
Viele Menschen leben fernab von Schutzgebieten, und Naturschutz hat vermeintlich wenig mit der eigenen Alltagsrealität zu tun. Daher muss das öffentliche Bewusstsein für den Erhalt unserer Artenvielfalt gestärkt werden – denn den aktuellen Kurs zu ändern und den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Im Kontext eines verstärkten politischen Fokus auf Wiederherstellung und naturbasierte Lösungen sollten wir nicht vergessen, dass Schutzgebiete der Grundpfeiler für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Europa bleiben. Viele Natura-2000-Gebiete sind bereits Orte, an denen Mensch und Natur gleichermaßen gedeihen können.