Rückblick auf 2024: Wie adelphi globale Umweltlösungen voranbringt
News vom 20. Dez. 2024
Kommentar von Vivianne Rau
Wir blicken zurück auf einen der heißesten Sommer seit Beginn der Messaufzeichnungen. In Erinnerung bleiben nicht nur eine Zunahme weltweiter Wetterextreme, sondern auch die Bilder von vor Flammen flüchtender Tourist*innen in den Urlaubsländern „vor unserer Haustür“ – mit einschneidenden Folgen für den südeuropäischen Tourismussektor. Während Urlauber*innen evakuiert werden konnten oder alternative Reiseziele wählen, müssen die Menschen vor Ort mit der Hitze leben und weiterhin ihren Alltag meistern – bei Temperaturen um die 40 Grad kann das lebensbedrohlich sein.
Das Arbeiten in der Hitze im Mittelmeer-Raum ist alles andere als selten eine Frage von Leben und Tod: Diesen Sommer starben mehrere Arbeiter an den Folgen der hohen Temperaturen, darunter ein norditalienischer Bäcker um die 60, ein 44-jähriger Straßenarbeiter in Mailand und zwei freiwillige Helfer in Griechenland. Die Opfer der neusten Hitzerekorde haben italienische und griechische Gewerkschaften auf den Plan gerückt: Sie fordern von den Arbeitgebenden sofortige Maßnahmen zum Schutz der Arbeitenden in den gefährdeten Sektoren. Neben dem erwähnten Tourismus- und Baugewerbe gehören unter anderem auch die Forst- und Landwirtschaft sowie der Gesundheits-, Pflege- und Bildungssektor zu den besonders exponierten Arbeitsumfeldern. Nun drohten die Gewerkschaften mit Streik und Arbeitsniederlegung – mit dem Teilerfolg, dass einzelne Kultureinrichtungen bei besonderer Hitze geschlossen und Arbeitszeiten in der Landwirtschaft angepasst wurden.
Die Zustände in unseren südlichen Nachbarländern zeichnen durchaus ein realistisches Zukunftsszenario für Beschäftigte hierzulande. Immerhin wird bis 2050 für weite Teile Deutschlands ein Mittelmeerklima prognostiziert. Und schon jetzt stehen viele Berufsgruppen unter enormer Belastung in Phasen extremer Hitze: Dachdecker*innen, dem ambulanten Pflegedienst oder vielen anderen Berufsgruppen, die für die Daseinsvorsorge und die sozial-ökologische Transformation unabdingbar sind, ist mit den Empfehlungen des Tragens leichter Kleidung und einem Aufenthalt im Schatten wenig geholfen. Solche grundsätzlich sinnvollen Verhaltenshinweise erscheinen angesichts der Zustände in einigen Branchen zynisch. Was es braucht, sind ambitionierte, mutige Ideen für transformative Klimaanpassung – also Maßnahmen, die nicht nur individuell, sondern strukturell und systemisch Veränderungen anstoßen und die gesellschaftliche Resilienz gegenüber Klimawandelfolgen erhöhen.
Der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) machte diesen Sommer einen interessanten Vorstoß. Man solle sich ein Beispiel an südlichen Ländern nehmen und die Arbeitszeiten den steigenden Temperaturen anpassen, also früh arbeiten und mittags lange ruhen. Es folgte eine öffentliche Debatte über die Umsetzbarkeit und Sinnhaftigkeit einer solchen „Hitze-Siesta“. Während Vertreter*innen der Arbeitgebenden, wie der Verband der Familienunternehmer mit Verweis auf bestehende Arbeitsschutzregeln, keine Notwendigkeit für derartige Vorschläge sehen, signalisierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Zustimmung. Und auch Bundesgesundheitsminister Lauterbach bezeichnete eine Hitze-Siesta als „keinen schlechten Vorschlag“. Der Knackpunkt: Aushandeln müssten das Arbeitgebende und -nehmende unter sich, die Politik sähe er nicht in der Verantwortung. Was die Debatte um die Hitze-Siesta gezeigt hat: An der Relevanz zweifelt so gut wie niemand mehr, für die Umsetzung entsprechender Maßnahmen fühlt sich aber niemand verantwortlich.
Wo Politik und Arbeitgebende keine gerechten Arbeitsbedingungen garantieren, liegt es auf der Hand, dort nach Forderungen und Lösungsvorschlägen zu suchen, wo sich sowieso bereits für Arbeiter*innenschutz eingesetzt wird: bei einschlägigen Gewerkschaften, wie IGMetall, Marburger Bund oder ver.di. Doch um das Stichwort „Klimaanpassung“ ist es verdächtig leise. Zwar finden sich vereinzelte Ratgeber zum Umgang mit Hitze für Beschäftigte, diese fokussieren jedoch auf die individuelle Schutzverantwortung der Beschäftigen (=selbst für Abkühlung sorgen). Solche One-size-fits-all-Lösungen werden der Heterogenität der betroffenen Branchen und den Herausforderungen des Klimawandels nicht gerecht. Kurzum: Sie erreichen angesichts des klimawandelbedingten Handlungsdrucks auf die Arbeitswelt kein angemessenes Ambitionsniveau. Vergeblich sucht man die konkrete Verbindung zur Klimakrise, geschweige denn eindeutige (politische) Positionierungen, breit angelegte Informationskampagnen oder branchenspezifische Publikationen. Warum Gewerkschaften sich angesichts der zunehmenden Krise der Arbeit so zögerlich verhalten, ist unverständlich. Statt auf einzelne Extremereignisse zu reagieren, ist es längst an der Zeit, das Thema Klimaanpassung dauerhaft und themenübergreifend auf die Agenda zu setzen.
Um eine schlagkräftige Agenda zu entwickeln, müssen alle relevanten Klimawandelfolgen – über Hitze hinaus – betrachtet werden. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) identifiziert fünf zentrale Risikofaktoren der Klimawandelauswirkungen auf arbeitende Menschen: Hitze, solare UV-Strahlung, Infektionskrankheiten, pflanzliche und tierische Allergene und Toxine sowie Extremwetterereignisse. Insbesondere die gesundheitlichen Auswirkungen anhaltender Wärmebelastung sind wissenschaftlich ausführlich belegt. Hitze kann Organe schwer schädigen, was zu chronischen Erkrankungen und im schlimmsten Fall zum akuten Hitzschlag mit Todesfolge führen kann. Für die Arbeitswelt relevant sind zudem die Auswirkungen von Extremwetter und Hitze auf die psychische Gesundheit von Beschäftigten – dazu gehören vermehrte Arbeitsausfälle, Konzentrationsschwierigkeiten oder Unfallgefahren.
Weitet man den Blick auf das soziale Umfeld von Beschäftigten, zeigt sich die gesamtgesellschaftliche Dimension einer „unangepassten“ Arbeitswelt: Wenn durch extreme Belastung durch Hitze die allgemeine Leistungs- und Arbeitsfähigkeit und Mobilität verringert wird, beeinflusst das indirekt auch die Menschen, die keiner Lohnarbeit nachgehen oder nachgehen können, wie Kranke, Rentner*innen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Asylsuchende oder Wohnungslose. Wer bei der Arbeit länger braucht und zusätzlich überlastet ist, hat weniger Kapazitäten für die Fürsorge und damit auch die Unterstützung dieser Gruppen – sei es im beruflichen Kontext, wie in der Pflege oder Sozialarbeit, oder in der häuslichen Sorgearbeit.
Die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge nicht zu erkennen und zu benennen, verstärkt potentiell den Trend, dass vulnerable Bevölkerungsgruppen am meisten unter den Folgen der Klimakrise leiden. Es ist somit auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit, Arbeitende vor den Folgen des Klimawandels zu schützen.
Politisch motivierte Arbeitskämpfe, wie sie in Griechenland, Italien oder Frankreich möglich sind, wären so in Deutschland nicht zulässig. Dennoch haben Gewerkschaften viele Möglichkeiten, aktiv zu werden. Naheliegend wären politische Forderungen nach Änderungen bestehender Regeln im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) und diverser technischer und arbeitsmedizinischer Normen. Gleichzeitig müsste der Druck auf Arbeitgebende erhöht werden, die schon heute bei Überschreitung bestimmter Temperaturen zu Schutzmaßnahmen verpflichtet sind. Neben mangelnder Aufklärungsangebote und fehlender staatlicher Kontrollen kennen Arbeitnehmer*innen häufig ihre Rechte nicht, sodass sie diese auch nicht durchsetzen können. Hier könnten Gewerkschaften Betriebsräte stärken und gezielt Aufklärungsarbeit im Bereich Klimawandelvorsorge leisten.
So empfiehlt es auch der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) in seinem Leitfaden für Gewerkschaften zur „Anpassung an den Klimawandel und die Arbeitswelt“. Darin enthalten sind konkrete Handlungsvorschläge für die Gewerkschaftsarbeit auf nationaler und lokaler Ebene. Gegenüber Arbeitgebenden sollte laut EGB der Schutz vor negativen Auswirkungen des Klimawandels auf das regionale wirtschaftliche Umfeld und die Arbeitnehmenden eingefordert werden. Die Entwicklung von Anpassungsstrategien unter Einbeziehung der Gewerkschaften könnte ein wirksames Instrument sein. Außerdem müssten langfristige, wirtschaftliche Diversifizierungsstrategien und angemessene Sozial- und Arbeitsschutzmaßnahmen angestrebt werden. Für die politische Gewerkschaftsarbeit empfiehlt es sich, bei der Verabschiedung von Anpassungsstrategien mitzuwirken sowie die Anpassung von bestehenden Gesetzen und Verordnungen zur Reduzierung der Risiken für Arbeitnehmende einzufordern. Außerdem müsse man sich für eine gesicherte, öffentliche Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen und die Stärkung sozialer Sicherungssysteme starkmachen.
Bisher wurde es versäumt, das Thema „Arbeit und Klimawandel“ auf die Agenda der Politik zu setzen. Das im Juli von der Bundesregierung verabschiedete, erste deutsche Klimaanpassungsgesetz wäre eine Möglichkeit hierzu gewesen. Es soll einen „verbindlichen Rahmen für eine vorsorgende Klimaanpassungsstrategie (…) in allen erforderlichen Handlungsfeldern“ schaffen. Die Arbeitswelt taucht dabei jedoch nicht als eigenständiges Handlungsfeld auf und wird nur indirekt unter „Wirtschaft“ behandelt. Der DGB kritisiert das Fehlen der Handlungsfelder „Arbeitswelt und Daseinsvorsorge“ in einer Stellungnahme zum Referentenentwurf des Anpassungsgesetzes. Ein Missstand, der schon früher hätte auffallen können – denn die Handlungsfelder wurden bereits in der ersten Anpassungsstrategie Deutschlands 2008 definiert und sind bis heute strukturgebend in der Klimaanpassungspolitik.
Auch das neue Klimaanpassungsgesetz nimmt den Schutz von Beschäftigten nicht in den Blick. Dabei ist man bei dessen Umsetzung auf besonders intensiv betroffene Tätigkeitsfelder angewiesen: Bäume müssen gepflanzt und gepflegt, Dächer und Fassaden begrünt, vulnerable Menschengruppen geschützt und versorgt werden.
Das Fundament wirksamer Klimaanpassung ist ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld. Der Vorstoß aus dem öffentlichen Dienstleistungsbereich, wie etwa dem des BVÖGD, könnte als wichtiger Türöffner für eine Diskussion um innovative und kreative Ideen aus sämtlichen Branchen dienen. Neben den erwähnten Empfehlungen der EGB sollten Gewerkschaften folgende erste Schritte eines Arbeitskampfs für zukunftssichere und sozial gerechte Arbeitsbedingungen einleiten:
Nächstes Jahr wird die Deutsche Anpassungsstrategie aktualisiert – der Zeitpunkt wäre insbesondere für Gewerkschaften und Verbände perfekt, um sich im Sinne einer transformativen Anpassung der Arbeitswelt in Stellung zu bringen.
Zur Autorin: Vivianne Rau ist Analyst bei adelphi zum Thema Klimaanpassung
Dieser Artikel erschien erstmalig in einer gekürzten und abgewandelten Version am 15. September 2023 in der Frankfurter Rundschau.