Rückblick auf 2024: Wie adelphi globale Umweltlösungen voranbringt
News vom 20. Dez. 2024
Meinungsbeitrag von Christiane Röttger
Der Verlust der Artenvielfalt und der Klimawandel sind die große Krise unserer Zeit. Die Auswirkungen auf unser Leben, unsere Sicherheit und unser Wohlergehen sind tiefgreifend, nicht nur im Globalen Süden, sondern zunehmend auch in Europa.
In Deutschland sind in nur 27 Jahren die Masse fliegender Insekten um 75 Prozent zurückgegangen, was nicht nur die Stabilität der Ökosysteme sondern auch die Ernährungssicherheit der Menschen gefährdet. Die schweren Überschwemmungen in Westdeutschland im vergangenen Sommer haben nicht nur die Gefahren der Klimakrise verdeutlicht, sondern auch eine Debatte um die Zerstörung von Naturwäldern und ihre Rolle bei der Abmilderung der Folgen extremer Wetterereignisse ausgelöst.
Die Lösung dieser Krise erfordert eine, wie Wissenschaftler*innen es nennen, „grundlegende, systemweite Reorganisation über technologische, wirtschaftliche und soziale Faktoren hinweg, einschließlich Paradigmen, Zielen und Werten“. Wir müssen vorherrschende Annahmen dazu, wie wir denken, sprechen und arbeiten, infrage stellen. Der Naturschutz muss ebenfalls seine zahlreichen Initiativen und Partnerschaften auf den Prüfstand stellen. Fördern oder behindern sie den transformativen Wandel, der für eine gerechtere und gesündere Gesellschaft erforderlich ist?
Das Konzept des politischen Framing kann die zugrundeliegenden Werte und Annahmen in Diskursen zum Thema Naturschutz sowie ihre Auswirkungen auf Handeln und Entscheidungen sichtbar machen. Damit lassen sich wiederum die Initiativen, die echten Wandel herbeiführen, von denen unterscheiden, die den Status quo verstärken.
Die kürzlich ins Leben gerufene Taskforce on Nature-Related Financial Disclosures (TNFD) verdeutlicht beispielhaft die Sichtweise der Geschäfts- und Finanzwelt auf das Artensterben. Die TNFD vereint Finanzinstitute und Konzerne, um ein „Rahmenkonzept für Organisationen zu entwickeln, mit dem sie über aufkommende naturbezogene Risiken berichten und entsprechend handeln können.“ Bei der Einführungsveranstaltung der TNFD sprachen die Panelteilnehmer*innen über die ökologische Krise, als ob es sich um ein rein technisches Problem handele, das nur deshalb noch nicht gelöst sei, weil Unternehmen und Investor*innen nicht in der Lage seien, ihre Umweltrisiken und -auswirkungen richtig zu messen. Der Natur müsse ein monetärer Wert zugewiesen werden, damit sie in den ökonomischen und finanziellen Transaktionen sichtbar wird. Denn nur messbare Werte könnten auch entsprechend gemanagt und berücksichtigt werden.'
Dieser Logik zufolge würden dann Investor*innen und Unternehmen ihre Verhaltensweisen ändern und ihre Investitionen „naturpositiv“ machen, sofern sie nur über eine Methodik verfügten, mit der sie ihre Auswirkungen auf die Umwelt messen und bilanzieren können. Ob diese Methodik dann den versprochenen Effekt erzielt, ist allerdings fraglich: Die jüngste Studie von urgewald und Rainforest Action Network zeigt, dass keines der großen globalen Finanzinstitute die notwendigen Maßnahmen ergriffen hat, um Kohlendioxidemissionen aus fossilen Brennstoffen zu verringern. Ihre Investitionen fließen weiterhin in Waldrodungen, Bergbau, umweltbelastende Industrien und landwirtschaftliche Monokulturen mit gut dokumentierten, verheerenden Auswirkungen für die Natur.
Slogans wie „Making nature count“ oder „Natur sichtbar machen“ legen nahe, dass die Natur gegenwärtig weder zählt noch sichtbar ist. Nur durch die ökonomische Betrachtung kann Natur endlich gesehen, bewertet und erfasst werden. Doch der Gedanke, dass Natur einen Preis braucht, lenkt den Blick auf rein technische Probleme rund um ökonomische Kalkulationen und ignoriert wesentliche Fragen zu Interessen, Machtstrukturen und dem System insgesamt. Die Logik und Sprache des Finanzmanagements entpolitisiert die Biodiversitätskrise und reduziert Naturschutz auf reines Ressourcenmanagement, bei dem es lediglich darum geht, Vermögenswerte zu quantifizieren, zu messen und zu verbuchen. Die Beschreibung von Natur als Kapital, das im Rahmen von „Habitat-Banken“ oder „Ökosystem-Accounting“ zu verwalten ist, forciert eine rein technokratische und reduktionistische Logik und Weltsicht: Wir sprechen hier nicht von Lebewesen und komplexen, lebendigen Systemen, sondern von Aktien und Wertpapieren.
Naturschützer machen sich diese Sichtweise und Sprache häufig zu eigen, um für den Naturschutz zu werben und gemeinsame Lösungen mit verschiedenen Akteuren zu finden. Doch inwieweit verändert dies letztlich auch unsere eigenen Positionen und Verhaltensweisen? Die Lösungen, die ein ökonomisches Framing propagiert, werfen die Frage auf, ob es hierbei wirklich in erster Linie um Naturschutz geht oder nur darum, geschäftliche Risiken und Ungewissheiten zu minimieren und Gewinne zu maximieren. Der „Business Case für Biodiversität“ wird oft als Argument für den Schutz der Natur aufgeführt, dabei verstärkt er die Beweispflicht des Naturschutz: Menschen, die sich um den Schutz der Natur bemühen, müssen ihre Überzeugungen und ihr Handeln ständig rechtfertigen und immer wieder neue Argumente für die Bedeutung der Natur aufzeigen. Wenn für den Schutz aber ständige Überzeugungsarbeit notwendig ist, dann ist die Zerstörung der Standard.
Indem wir die Natur bilanzierbar, messbar und vergleichbar machen, machen wir sie auch ersetzbar. Nehmen wir zum Beispiel Kompensationsmaßnahmen oder Biodiversität-Offsets. Wenn ein Unternehmen den Bau einer Autobahn durch ein wichtiges Ökosystem plant, kann es den an dieser Stelle entstandenen Schaden „kompensieren“, indem es „eine vergleichbare Menge an Biodiversität“ anderswo schützt oder wiederherstellt. Auch hier gilt das Augenmerk der zugrundeliegenden Logik, die von den eigentlichen Fragen ablenkt: Wir bauen, produzieren und konsumieren derzeit viel mehr, als wir für unser Wohlergehen benötigen, mit verheerenden Auswirkungen für die Natur. Die eigentliche Aufgabe besteht also darin, festzustellen ob und welche Art von Infrastruktur überhaupt wirklich notwendig ist. Kompensationsmaßnahmen implizieren aber, dass diese Art der Entwicklung ohnehin unvermeidlich ist und unsere einzige Möglichkeit darin besteht, den Schaden zu begrenzen, anstatt die dahinterstehenden politischen Entscheidungen zu hinterfragen.
Mit den in dieser Sprache verankerten Werten wurde über Jahrhunderte hinweg die Zerstörung der Natur gerechtfertigt und ermöglicht. Wenn wir es wirklich ernst meinen mit dem vielzitierten transformativen Wandel, müssen wir über das System selbst sprechen und dürfen das Artensterben nicht auf ein Problem der Buchhaltung reduzieren. Aber was bedeutet das in der Praxis? Die Zeit zur Eindämmung der Biodiversitäts- und Klimakrise wird gefährlich knapp, während die nötigen Mittel und der politische Wille dazu weiterhin fehlen. Wir müssen daher klare Prioritäten setzen und uns darauf konzentrieren, was sich bereits als wirksam bewiesen hat: Indigene Völker und lokale Gemeinschaften (IPLC) auf der ganzen Welt zeigen bereits, was es tatsächlich heißt, „in Harmonie mit der Natur zu leben“ (z. B. im Territories of Life: 2021 Report). Von IPLC verwaltete Gebiete machen mindestens ein Viertel der weltweiten Landfläche aus, was etwa 80 Prozent der Artenvielfalt auf der Erde entspricht, und ihre wichtige Rolle beim Erhalt der Biodiversität wird zunehmend anerkannt. Gleichzeitig sind sie zunehmender Gewalt und Druck durch Ressourcenausbeutung, Bergbau und Infrastrukturentwicklung ausgesetzt. Die Anerkennung und der Schutz ihrer territorialen Rechte und ihres Wissens, einschließlich ihres Rechts auf Selbstbestimmung sowie die Unterstützung ihrer gemeinschaftlichen Governance-Systeme ist die Grundlage zum Erreichen der weltweiten Ziele in den Bereichen Biodiversität, Klima und nachhaltige Entwicklung.
Anstatt jedoch entsprechende Politiken und Maßnahmen zu unterstützen und umzusetzen, sind die Leute damit beschäftigt, sich über die Methodik zur Messung naturbezogener Risiken für den Finanzsektor den Kopf zu zerbrechen. Die Darstellung unserer Beziehung zur Natur als ein Asset-Management-Problem mit seinen „marktorientierten“ Lösungen führte bisher bestenfalls zu gemischten Ergebnissen mit wenig „messbaren“ positiven Auswirkungen auf die Natur. Die Abkehr von diesem rein technokratischen Framing und seinen vermeintlichen Lösungen, meist ohne jeglichen Bezug zur Realität vor Ort, kann Freiräume eröffnen, die es uns ermöglichen, uns darauf zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist, und wertvolle Ressourcen, Aufmerksamkeit, Zeit und Energie entsprechend einzusetzen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 29. Oktober 2021 in einer gekürzten Fassung in der Frankfurter Rundschau.
Christiane Röttger ist Senior Manager Biodiversity bei adelphi und leitet unterschiedliche Vorhaben im Bereich Biodiversität und Naturschutz. Sie hat mehr als zehn Jahre Erfahrung in der internationalen Artenschutz- und Biodiversitätspolitik mit einem Fokus auf die Entwicklung und Umsetzung von regionalen und internationalen Programmen zum Schutz von bedrohten Tierarten. Sie verbindet ihre Kenntnisse über die globale Artenschutzpolitik mit einem fundierten Verständnis der lokalen Naturschutz-Probleme vor Ort, insbesondere hinsichtlich des Schutzes von bedrohten wandernden Tierarten in den ariden Steppen und Gebirgsregionen Zentralasiens.