Im Nachrichtenstrudel der multiplen Krisen droht das eine oder andere unterzugehen. Dazu zählt unter anderem, dass die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verordnung über die Wiederherstellung der Natur auf Messers Schneide steht. Lützerath und Dannenröder Forst sind nichts verglichen mit dem anhaltenden und konsequenzlosen Verursachen von Umweltschäden, das ein Scheitern der Verordnung zur Folge hätte. Und doch droht das Vorhaben auf Betreiben der Europäischen Volkspartei und deren Anhänger*innen im Europaparlament sowie ihrer Verbündeten aus der Agrarindustrie zu scheitern.
Dabei würde die Verordnung einen Meilenstein in der Biodiversitätspolitik darstellen, da erstmals rechtlich bindende Ziele zur Wiederherstellung der Natur in EU-Staaten formuliert und eingeführt würden. Es wäre zusätzlich ein wirtschaftlicher Gewinn für Europa, einschließlich seiner Landwirtschaft. Es ist also höchste Zeit für ein paar grundlegende Fakten, die zeigen, warum das Gesetz dringend gebraucht wird und warum viele Gegenargumente auf Desinformation beruhen:
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1. Die Wiederherstellung der Natur sowie effektiver Naturschutz sind kein luxuriöser Zeitvertreib.
Denn der Zustand der Natur in Europa verschlechtert sich drastisch. Im aktuellen „State of Nature“-Bericht der EU-Mitgliedstaaten ist unter der Flora-Fauna-Habitat Richtlinie festgehalten, dass sich bereits mehr als 80 % der europäischen Ökosysteme in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand befinden. Laut Internationaler Union zur Bewahrung der Natur (IUCN) ist derzeit fast jede vierte Spezies in Europa vom Aussterben bedroht. Allein in Deutschland haben wir seit 1970 75 % der Biomasse fliegender Insekten verloren! Die Verordnung schlägt angesichts der aktuellen Geschwindigkeit des Habitatverlusts und Artensterbens ambitionierte übergeordnete Ziele vor: 20 % der degradierten Land- und Meeresflächen der EU sollen bis 2030 wiederhergestellt werden. Bis 2050 sollen über die 20 % hinausgehend alle diesbezüglichen Gebiete wiederhergestellt sein, einschließlich Feuchtgebiete, Wälder sowie städtische und landwirtschaftliche Ökosysteme.
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2. Die Wiederherstellung der Natur, wie sie die Verordnung vorsieht, gefährdet die Ernährungssicherheit in Europa nicht.
Ganz im Gegenteil: Tatsächlich sind 84 % unserer Nutzpflanzen zumindest teilweise von der Bestäubung durch Insekten abhängig. Jene Insekten sterben jedoch in Folge der modernen Intensiv-Landwirtschaft und der Anwendung von Pestiziden aus – Stichwort Insektensterben. Um die Ernährungssicherheit in Europa langfristig gewährleisten zu können, müssen wir also dringend die Lebensräume von Bestäuberpopulationen wiederherstellen und somit deren Existenz schützen.
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3. Die ökologische Restaurierung von Flächen schließt deren landwirtschaftliche Nutzung nicht aus.
Nach der vorgeschlagenen Verordnung können auf wiederhergestellten Flächen weiterhin landwirtschaftliche und andere wirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt werden. Restaurierte Flächen sind keine streng geschützten, in ihrer Nutzbarkeit eingeschränkten Naturschutzgebiete. Durch das Vereinen von wirtschaftlicher Tätigkeit und Naturschutz auf einem Gebiet verfolgt die Verordnung über die Wiederherstellung der Natur das übergeordnete Ziel, ein Leben im Einklang mit der Natur zu unterstützen und zu ermöglichen.
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4. Auch die Wiederherstellung sogenannter Landschaftselemente schließt eine landwirtschaftliche Nutzung jener Flächen nicht aus.
Die Verordnung sieht vor, die naturverträgliche Vegetationsdecke auf landwirtschaftlichen Flächen in der EU von derzeit 7 % auf 10 % zu erhöhen, um die biologische Vielfalt zu erhalten und zu fördern. Werden also 10 % der Agrarflächen unbrauchbar? Nein. Zu den Landschaftselementen einer naturverträglichen Vegetationsdecke gehören zum Beispiel Streuobstwiesen oder Hecken.
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5. Die Wiederherstellung der Natur ist von zentraler Bedeutung für die Anpassung der Landwirtschaft an den Klimawandel.
Diese Anpassung müssen Europas Landwirte ohnehin vollziehen, um sich gegen die verändernden klimatischen Bedingungen zu rüsten: Nach Angaben des Europäischen Parlaments sind die größten Auswirkungen von langanhaltenden Dürreperioden auf Ackerland zu beobachten. Degradierte Böden können extremen Wetterereignissen nicht standhalten. Und diese werden laut IPCC (zwischenstaatlicher Sachverständigenrat für Klimaänderungen) in zukünftigen Dekaden immer häufiger auftreten. Wir müssen unsere Nahrungsmittelproduktion also jetzt schon klimaresilienter gestalten. Dazu gehören die Wiederherstellung degradierter Böden und Ökosysteme, die Vermeidung von Monokulturen im Anbau sowie die Umstellung auf eine grundsätzlich biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft.
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Mehr als 1.400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ihre Unterstützung für die vorgeschlagene Verordnung erklärt. Ebenso hat sich die IUCN in einem Schreiben an EU-Präsidentin Ursula von der Leyen und die schwedische EU-Ratspräsidentschaft gewandt, um die EU-Institutionen aufzufordern, eine ambitionierte Verordnung zur Wiederherstellung der Natur zu verabschieden. Des Weiteren haben sich 210 Organisationen aus der europäischen Zivilgesellschaft zusammengetan und gemeinsam eine Stellungnahme formuliert, in der sie an die EU-Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission sowie die Mitglieder des EU-Parlaments appellieren, bis Ende 2023 die Verordnung zur Restauration der Natur anzunehmen. Zu jenen Organisationen gehören NGOs wie WWF, Greenpeace und NABU, Stiftungen wie die Bodensee Stiftung sowie wissenschaftliche Verbände wie Wetlands International und die Gesellschaft für ökologische Restoration. Auch mehr als 60 der größten europäischen Unternehmen, darunter Nestlé, Unilever und Ikea, haben sich für eine Verordnung zur Wiederherstellung der Natur ausgesprochen. Die konservativen Fraktionen des Europaparlaments wären gut beraten, ihnen Gehör zu schenken anstatt sich den Interessenvertretern großer landwirtschaftlicher Betriebe anzuhängen.
Es richten sich nun alle Augen auf den Umweltausschuss des Europäischen Parlaments, der voraussichtlich am 15. Juni abstimmen wird. Zu argumentieren, nichts tun wäre die bessere Alternative, während landwirtschaftliche Existenzgrundlagen um uns herum schon seit Jahren reihenweise flöten gehen, ist absurd.
Dieser Beitrag erschien am 13. Juni 2023 erstmals im klimareporter°.