Nach Baku - die COP braucht endlich wieder ein Heimspiel
Kommentar von Dennis Tänzler
Insight von Stephan Piskol
In der EU zielt die Biodiversitätsstrategie der Europäischen Kommission für 2030 darauf ab, die biologische Vielfalt bis 2030 auf den Weg der Erholung zu bringen [2]. Dieses Ziel soll unter anderem durch neue rechtsverbindliche Wiederherstellungsziele, das heißt ein neues EU-Wiederherstellungsgesetz, erreicht werden [3].
Ein neues EU-Umweltgesetz ist nichts Alltägliches. Die beiden letzten EU-Biodiversitätsgesetze waren die FFH-Richtlinie von 1992 und die Verordnung über invasive gebietsfremde Arten von 2014. Vor diesem Hintergrund geben wir einen Überblick über die Schritte, die zum Inkrafttreten Umsetzung des neuen Gesetzes führen werden, sowie einen ersten Kommentar dazu, worauf wir dabei achten sollten.
Wiederherstellung beschreibt im weitesten Sinne das Zurückbringen eines früheren Zustands (z.B. eines alten Gebäudes oder Gemäldes) oder von etwas, das verloren gegangen ist (z.B. Daten). In Bezug auf Ökosysteme ist Wiederherstellung oder Renaturierung der Prozess, die „Erholung“ eines degradierten, geschädigten oder zerstörten Ökosystems zu unterstützen, etwa im Hinblick auf die ursprüngliche Artenzusammensetzung oder natürliche Funktionen [4,5].
Die Wiederherstellung kann „aktiv“ oder „passiv“ erfolgen. In einigen Fällen kann sich ein Ökosystem durch natürliche Prozesse selbst wiederherstellen, sobald eine nicht nachhaltige Nutzung oder schädliche Aktivitäten eingestellt werden. In anderen Situationen könnten Ökosysteme dauerhaft verändert worden sein oder in alternative, unerwünschte Zustände übergehen, wenn sie sich selbst überlassen werden. Hier sind womöglich erste, aktive Wiederherstellungsmaßnahmen notwendig (z.B. die Entfernung von Nährstoffüberschüssen in Grünland, veralteten Barrieren in Flüssen oder von unerwünschten Vegetationstypen). Die Verbesserung des Schutzes der verbliebenen intakten Ökosysteme ist dabei mindestens genauso wichtig wie die Wiederherstellung dessen, was verloren wurde. Auch deshalb enthält die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 neue ehrgeizige Ziele für den Ausbau und das bessere Management von Schutzgebieten.
Das neue Gesetz wird allerdings nicht alle denkbaren Arten und Fälle von Ökosystemwiederherstellung in Europa abdecken. Das liegt daran, dass bestimmte Umweltprobleme bereits durch andere Rechtsinstrumente (wie die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)) abgedeckt sind (oder sein sollten) oder dass EU-Maßnahmen nicht der effektivste Ansatz sind, um sie zu regeln.
Die EU-Verträge geben der Europäischen Kommission das Initiativrecht, neue Gesetze vorzuschlagen (begrenzte Einzelermächtigung), wenn sie effektiver handeln kann als die nationalen Regierungen (Subsidiarität). Allerdings dürfen „die Maßnahmen der EU nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderlich ist“ (Verhältnismäßigkeit). Die Einhaltung dieser Prinzipien wird durch ein transparentes, inklusives sowie wissenschaftlich und rechtlich fundiertes Verfahren sichergestellt.
Konkret beinhaltet dieses Verfahren eine öffentliche Konsultation der Bürgerinnen und Bürger der EU, welche im April 2021 endete, [6] sowie verschiedene Online-Stakeholder-Workshops. Parallel dazu führt die Kommission eine Folgenabschätzung durch, die beschreibt, „wer von der Initiative wie betroffen sein wird“ und die Ergebnisse der vorangegangenen Konsultationsprozesse darstellt [7]. Die Folgenabschätzung bewertet auch die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen verschiedener rechtlicher Szenarien (keine Maßnahmen, unverbindliche Initiativen/Verbesserung bestehender Gesetze, neues Gesetz). Die Qualität der Folgenabschätzung wird danach vom Ausschuss für Regulierungskontrolle [8] geprüft. Schließlich muss der Legislativvorschlag vor seiner Veröffentlichung auch dienststellenübergreifende Konsultationen mit den anderen Generaldirektionen (GDs) der Kommission durchlaufen (ähnlich der Ressortabstimmung von Gesetzen auf nationaler Ebene).
Sowohl der Legislativvorschlag als auch die Folgenabschätzung sollen bis Ende 2021 gemeinsam veröffentlicht werden und dann in das Mitentscheidungsverfahren (Ordentliches Gesetzgebungsverfahren) der EU mit dem Europäischen Parlament und den Mitgliedsstaaten (Rat) eintreten [9]. Im Gegensatz zur Kommission sind die beiden Mitgesetzgeber jedoch nicht an einen solchen wissenschaftlich fundierten und evidenzbasierten Ansatz gebunden. Stattdessen können die von Rat und Parlament vorgeschlagenen Ergänzungen und Änderungen auch rein politisch motiviert sein.
Die Natur Europas ist so vielfältig wie seine Kultur und die sozioökonomischen Realitäten seiner Bürger und Bürgerinnen. Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen biogeografischen Bedingungen auf dem Kontinent, sondern auch an den Unterschieden in Land- und Ressourcennutzung und ihren Einflüssen auf Erhaltungszustand und Ausdehnung der verbleibenden Lebensräume und Ökosysteme in den verschiedenen Mitgliedsstaaten [10].
Die Herausforderung für die Kommission besteht darin, ein ehrgeiziges Instrument zu entwerfen, das zu wirklichen Verbesserungen in der Fläche führt. Gleichzeitig müssen die gesetzten Ziele der Diversität Europas Rechnung tragen und sowohl für dicht besiedelte Länder mit intensiver Landnutzung als auch in Ländern mit einem großen Anteil an weitgehend intakter, artenreicher Natur anwendbar sein.
Während der Stakeholder-Workshops teilte die Kommission ihre ersten Ideen. So wird zum Beispiel ein zweistufiger Ansatz in Betracht gezogen, bei dem die anfänglichen Ziele eng mit den Vorgaben in bestehenden Rechtsvorschriften (Vogelschutz und FFH-Richtlinie, EU-Wasserrahmenrichtlinie, Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie) verbunden sind. Diese Ziele würden nach den Hauptlebensraumtypen aufgeschlüsselt und dann von jedem Mitgliedsstaat durch nationale Wiederherstellungspläne weiter ausdifferenziert werden. Die Pläne würden auch den Wiederherstellungsbedarf aus ökologischer Sicht, sowie die Maßnahmen und den Zeitrahmen für ihre Umsetzung festlegen. Der erste Meilenstein zur Erreichung der Ziele wäre 2030. Es wird jedoch auch eine mögliche Fortschreibung der Wiederherstellungspfade mittels einer Vision für 2040 und 2050 diskutiert.
Die Ziele müssten sowohl quantitative Aspekte (z.B. Hektar, auf denen Wiederherstellungsmaßnahmen umgesetzt wurden) als auch qualitative Aspekte (z.B. absolute und relative Verbesserungen des Zustandes der Natur, die erreicht oder in Gang gesetzt wurden) berücksichtigen. Um sicherzustellen, dass die Ziele messbar sind, muss ein Monitoring-Prozess etabliert werden, der die Umsetzung des Wiederherstellungsgesetzes verfolgt. Die Toolbox der Kommission zur besseren Rechtsetzung [11] unterscheidet hier zwischen „Output-Indikatoren“ (d.h. die Maßnahmen der Mitgliedsstaaten zur Erreichung des Ziels) und „Ergebnis-/Wirkungsindikatoren“ (das angestrebte Ziel selbst, in diesem Fall die Verbesserung des Zustands der Ökosysteme und möglicherweise sozioökonomischer Zusatznutzen). Insbesondere die Output-Indikatoren müssen zielgerecht definiert werden, um die Anstrengungen der Mitgliedsstaaten und den Fortschritt in Richtung des Ziels kontinuierlich zu verfolgen. Um die Diskussionen über Indikatoren und wie sie für die Priorisierung verwendet werden sowie das anschließende Monitoring zu unterstützen, half adelphi bei der Organisation von zwei Expert/-innen-Workshops auf EU-Ebene für das Umweltministerium (BMU) und das Bundesamt für Naturschutz (BfN) in Zusammenarbeit mit der GD Umwelt der Europäischen Kommission.
Der aus ökologischer Sicht dringendste Handlungsbedarf ist weitestgehend bekannt. Ebenso gibt es vielfältige Erfahrungen in der Wiederherstellung von Ökosystemen. Politische Maßnahmen müssen jedoch so entworfen werden, dass sie alle relevanten Umsetzungsbarrieren adressieren helfen. Was im Anblick solcher Barrieren wirklich umgesetzt werden kann, bezeichnet man als „Wiederherstellungspotenzial“. Solche sozio-ökonomischen Barrieren sind zum Beispiel die mangelnde Akzeptanz von Interessengruppen oder fehlende finanzielle Mittel und institutionelle Kapazitäten. Wenn solche kritischen Hindernisse gemindert oder überwunden werden, steigt das Potenzial für Wiederherstellungsmaßnahmen. Dies kann zum Beispiel geschehen, indem ein Schwerpunkt auf Nutzungsarten gesetzt wird, die aus wirtschaftlicher Sicht nicht nachhaltig sind (z.B. veraltete Flussbarrieren, die entfernt werden können; vom Klimawandel gefährdete Wälder, die umgebaut werden können; landwirtschaftliche Flächen mit geringer Produktivität, die aufgegeben oder anders genutzt werden können etc.). Weiterhin können die mit den Maßnahmen verbundenen Kosten und ihr Aufwand dem sozio-ökonomischen Zusatznutzen der wiederhergestellten Natur gegenübergestellt werden. Auch die Kommission betont diese Synergien in ihrer Biodiversitätsstrategie für 2030, zum Beispiel bei der Kohlenstoffspeicherung in natürlichen Wäldern oder der Wiedervernässung von Moorböden sowie dem Hochwasserschutz durch wiederhergestellte Flüsse und Auen.
Unter Berücksichtigung genau solcher Zusatznutzen hat der Naturschutzbund (Nabu) vor kurzem eine Studie veröffentlicht, die geeignete Wiederherstellungsmaßnahmen für verschiedene Ökosysteme identifiziert und eine erste Einschätzung der Größenordnung von Räumen liefert, die für Wiederherstellungsmaßnahmen besonders geeignet sind. Mit Fokus auf organische Böden, Grünland, Wald, Überschwemmungsgebiete von Flüssen sowie landwirtschaftliche Böden mit geringem Ertragspotenzial ergab die vom Landschaftsplanungsbüro GFN in Zusammenarbeit mit adelphi durchgeführte Studie, dass insgesamt 20 Prozent des Bundesgebietes ein hohes Potenzial für Wiederherstellungsmaßnahmen aufweisen.
In jedem Fall benötigt die Identifizierung potenzieller Renaturierungsflächen eine starke wissenschaftliche und demokratische Basis, um einen möglichen Mangel an Akzeptanz bei den beteiligten Interessengruppen zu verhindern. Dies muss auch begleitende Kommunikationsmaßnahmen beinhalten, um so Wissenslücken frühzeitig zu schließen und Missverständnisse von Beginn an zu vermeiden. Wie wir bei früheren EU-Naturschutzgesetzen gesehen haben (z. B. bei der Einrichtung des Natura-2000-Netzwerks von Schutzgebieten), ist dies eine der größten Barrieren für eine effektive Umsetzung.
Während die Kommission die EU-Verträge vertritt, repräsentieren die beiden Mitgesetzgeber die europäischen Bürger und Bürgerinnen direkt sowie durch ihre gewählten Regierungen. Beide Institutionen haben sich in der Vergangenheit für ambitionierte und rechtsverbindliche Wiederherstellungsziele ausgesprochen [12]. In der Praxis neigen die Mitgliedsstaaten und die Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEPs) jedoch oft dazu, die Vorschläge der Kommission während der Trilog-Verhandlungen abzuschwächen. Die vorherige wie auch die aktuelle Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik sind wohl die bekanntesten Beispiele für solch traurige Verwässerungen und Reduzierungen der ursprünglichen Ansprüche [13,14].
Für das Wiederherstellungsgesetz könnten ähnliche Versuche folgende Gestalt annehmen:
Wie eingangs beschrieben, unterscheiden sich die Bedürfnisse und Anforderungen der Mitgliedsstaaten, und es ist verständlich, dass sie versuchen, den Gesetzesvorschlag an ihre eigenen nationalen Gegebenheiten anzupassen. Nichtsdestotrotz haben sie bereits die Notwendigkeit von Maßnahmen auf EU-Ebene anerkannt. Dies impliziert auch die Erkenntnis, dass „Natur Grenzen überschreitet“ und der Schutz der biologischen Vielfalt auch auf Seiten der Mitgliedsstaaten eine europäische Perspektive erfordert. Hier kann der Austausch von bestehenden Erfahrungen bei der Priorisierung von Wiederherstellungsmaßnahmen auch dazu beitragen, die Umsetzung des neuen Gesetzes zu erleichtern und zu beschleunigen.
Bei der Ausarbeitung ihres Vorschlages für ein Wiederherstellungsgesetz sollte auch die Kommission kritisch über das Schicksal vieler ihrer Gesetzesvorschläge im Bereich Umwelt- und Naturschutz nachdenken und sicherstellen, dass klare Regeln und Anleitungen für die Mitgliedsstaaten in den Vorschlag aufgenommen werden. Neben eindeutig definierten quantitativen Zielen muss hier auch ein klarer Rahmen von geeigneten Wiederherstellungsmaßnahmen für jedes Ökosystem vorgegeben werden. Diese könnten auch gemäß den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen (Grad der Degradation) weiter differenziert werden, zum Beispiel um festzulegen, wann aktive Maßnahmen erforderlich sind. Zudem bedarf es einfacher, robuster und sensitiver Indikatoren für das Monitoring des Erfolgs von Wiederherstellungsmaßnahmen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Wiederherstellung der Natur ein echter Fortschritt für die biologische Vielfalt und uns alle ist.